5G für die Automatisierungstechnik – Einschätzungen im Herbst 2019
Ein Update von Thomas Schildknecht, CEO Schildknecht AG
Optimismus und Geduld, so etwa war zu Jahresbeginn 2019 die Einschätzung der Automatisierer bezüglich Nutzung der neuen 5G-Funktechnologie in ihrem Arbeitsgebiet. Mittlerweile liegen weitere Informationen und Erkenntnisse vor, nicht zuletzt nach der VDI-Fachkonferenz „5G in der Automation“ Anfang Juli in Baden-Baden. Die aktuelle Einschätzung klingt ähnlich, lautet aber Geduld und Optimismus: Die technischen Möglichkeiten sind weiterhin attraktiv, aber bis zu ihrer Umsetzung in der Praxis wird noch viel Zeit verstreichen.
Umsetzung wichtiger 5G-Dienste steht noch aus
Im Hintergrund von „5G“ stehen bekanntlich verschiedene Dienste, mit deren Hilfe Endanwender individuelle „Campusnetze“ aufbauen können. Es sind dies:
- Der Dienst eMBB (enhanced Mobile Broadband)
wird eine Weiterentwicklung von 4G in Bezug auf die Datenrate sein und damit bevorzugt für Anwendungen mit hohe Datenübertragungsraten wie z.B. Videostreaming oder Augmented Reality eingesetzt werden. - Der Dienst uRLLC (ultra Reliable Low Latency Communication)
soll eine besonders kurze Latenzzeit bei gleichzeitig sehr hoher Verfügbarkeit ermöglichen; Einsatzbereiche dafür sind daher die Fertigungsautomatisierung (Robotik), selbstfahrende Autos, Überwachung vitaler medizinischer Daten, u. ä. Als völlig neue Applikation soll diese 5G-Klasse auch den Aufbau anwendereigener Netze mit eigenen Basisstationen auf dem Firmengelände und exklusiver Frequenz und benötigter Bandbreite ermöglichen. - Der Dienst mMTC (massive Machine Type Communications)
soll Anwendungen mit besonders vielen Sensoren an einer Basisstation ermöglichen (hoher Vernetzungsgrad). Im Industriebereich stehen hierfür die Begriffe „Industrie 4.0“ und „Internet der Dinge“ (IoT) und allgemein die Automatisierungstechnik. Im Consumerbereich ist das die Überwachung von z. B. Heimsensoren für Strom, Temperatur, Rauchentwicklung u. ä. - Network-„Slicing“
Die mit 5G verfügbare neue Technologie ermöglicht es, dass Netzbetreiber über eine einzige physikalische Netzinfrastruktur mehrere Netzwerke (z. B. auf spezielle Kunden- oder Applikationen ausgerichtet) betreiben und verwalten können. Dies ist eine wichtige Eigenschaft für die Umsetzung von Industrie-4.0-Anforderungen z. B. in Hinblick auf Flexibilität.
Hierzu wurde deutlich, dass diese Dienste zumindest teilweise erst mit dem im Jahr 2020 erwarte-ten Release 16 definiert werden. EMBB wurde bereits in Release 15 definiert. Erst nach diesem Datum können dann die „Baseband“-Chiphersteller mit der finalen Spezifikation der zugehörigen Chips beginnen; und dann wird es wohl weitere 2-3 Jahre dauern, bis die ersten integrationsfähigen Module auf den Markt kommen. Die Konsequenz: Die ersten 5G-Lösungen für Automatisierungsgeräte werden – auch wenn alle anderen Voraussetzungen gegeben sind – erst ca. 2023 verfügbar sein!
Latenz-Zeiten müssen noch verkürzt werden
Ein Stolperstein in den Diskussionen zwischen Automatisierern bzw. Endkunden der Fabrikautomation und Mobilfunkprovidern und Netzausrüstern ist unverändert die Latenz-Zeit, sowohl hinsichtlich Definition als auch der bisher erreichten Werte! Für die Automatisierer beschreibt Latenz s die sog. „Feldbus-Aktualisierungszeit“ (Jitter), welche bei Echtzeitanwendungen wie synchronisierte Antriebe (mit PROFINET oder TSN) nur wenige Mikrosekunden betragen darf! Bei 5G liegt dieser Wert derzeit jedoch bei etwa 100 Mikrosekunden!
Ähnlich sieht es bei den Übertragungszeiten in 5G- Campusnetzen aus: Hier wir derzeit für die Übertragung eines Datenpaketes ein Wert von 1 Millisekunde „angestrebt“! Dieser Wert ist damit also kein garantierter Wert, sondern vorerst nur das Entwicklungsziel, um 5G für Automatisierungsanwendungen einsetzen zu können. Das hierfür vorgesehene TDD-Verfahren ist jedoch als Halb-Duplex-Verfahren kontraproduktiv hinsichtlich geringer Latenzzeiten: Nicht ohne Grund wur-de beim Übergang von PROFIBUS auf PROFINET auch der Übergang von Halb- auf Voll-Duplex voll-zogen. Es muss also festgestellt werden, dass die heute erreichbaren Latenzzeiten noch erheblich über den Zielvorgaben liegen und dass hier noch erhebliche Anstrengungen erforderlich sind.
5G-Reifeprozess benötigt noch Zeit
Zur Vervollständigung von 5G müssen noch weitere Technologie-Komponenten wie Beamforming, MIMO-Antennen und Millimeterwellen entwickelt werden, um nur einige Beispiele zu nennen. Generell wird es daher noch einige Jahre in Anspruch nehmen bis die heutige 5G-Lösung durch Erweiterungen einen technologischen Reifezustand erreicht hat; bei allen Vorgängertechnologien (2G-4G) vergingen dafür fünf und mehr Jahre; für 5G kann von einem ähnlichen „Reifeprozess“ ausgegangen werden.
Campus-Netze stecken noch in der Kosten-Diskussion
Mit den neu geschaffenen Campus-Netzen können Betriebe auf ihrem Firmengelände eine eigene Basisstation mit z.B. 4G LTE- oder 5G-Technologie errichten und für ihre industriellen Prozesse ver-wenden: Beispielsweise für eine Art „Super WLAN“ zur IIoT- und AGV-Vernetzung von mobilen und autonomen Förderfahrzeugen. Bandbreiten in 10MHz Schritten können ab September 2019 bei der Bundesnetzagentur, unter Angabe des Verwendungszwecks, beantragt werden. Seit Anfang November 2019 sind auch die Kosten dafür nach einer Formel errechenbar. Zu beachten ist dabei, dass für Campusnetze das Prinzip „Use it or loose it“ gilt: die Installation muss innerhalb eines Jahres erfolgen sonst erlischt die Genehmigung! Dienstleistungsangebote für Telefonie und Internetzugang sind in diesem Frequenzbereich nicht möglich. Zwischenzeitlich wurden auch die innerhalb der Campusgrenzen zulässigen maximalen Feldstärkewerte veröffentlicht. Generell hat die Politik jedoch hier eine mutige Entscheidung für die Industrie und deren Zukunftsmöglichkeiten getroffen: 100MHz-Bandbreite im 3,7 – 3,8GHz Band wurden für derartige industrielle Anwendungen reserviert und bei der Lizenz-Versteigerung den Mobilfunkprovidern verweigert!
Wie geht es weiter mit 5G in der Automatisierungstechnik?
Noch gibt es in der Automatisierungstechnik keine Schlüssel-Applikation für 5G! Das liegt aber weniger an fehlende Kreativität der Automatisierer, sondern an den noch nicht vorhandenen 5G-Campusnetzen und an den ebenso noch fehlenden 5G-fähigen Endgeräten, die die entsprechende Bandbreite unterstützen. Hoher Zuverlässigkeit und niedrige Latenz sind in den jetzt versteigerten Frequenzbändern nicht möglich! Denn momentan hat noch kein Mobilfunkprovider im 3,5GHz Bereich entsprechende Bandbreite ersteigert, um die erforderlichen hohen Datenraten realisieren zu können. Das nächste Band ist dann 24GHz, welches aber erst mit den folgenden Releases spezifiziert werden wird. Diese lange Kette von Teilrealisierungen setzt sich fort bis hin zu den 5G-Chipanbietern, welche sich zu Beginn auf die kommerziell interessantesten Projekte konzentrieren werden, und das ist eindeutig die Consumerwelt mit ihren Millionen an Smartphones und Tabletts. Inwieweit die dafür entwickelten Chiptechnologien dann auch für industrielle Endprodukte wie z.B. Sensoren geeignet sind, muss sich zeigen. Denn zumindest einige Zielsetzungen laufen hier schon stark auseinander:
In der Consumerwelt werden 5G Chips in sehr kurzen Produktionszyklen und sofort hohen Stückzahlen verarbeitet, wenn alle 2 Jahre die nächste Smartphone-Generation mit immer höheren Leistungsdaten aufwarten muss. Für industrielle Anwendungen müssen Chips dagegen viele Jahre lieferbar sein. Das hierfür zugrundeliegende Problem ist der sehr hohe nationale Funk-Zertifizierungsaufwand, den die Länder vorwiegend individuell definieren und den jeder Inverkehrbringer zu erbringen hat und das für über 10 unterschiedliche Frequenzbereiche, die es bei 5G gibt. Unabhängig von diesem Zeitaufwand für die Zertifizierung muss für eine Zulassung in den wichtigsten Industriemärkte mit Kosten von mindestens 500 000.-€ gerechnet kalkuliert werden; und dieser Aufwand wiederholt sich bei jeder neuen Chipgeneration. Ein Sensorhersteller mit einer hohen Zahl an Produkten wird diese daher kaum auf 5G ertüchtigen, wie es auch schon bei Bluetooth der Fall war bzw. ist: Obwohl diese Technologie bereits 20 Jahre bekannt ist, gibt es kaum industrielle Sensoren mit dieser Funktechnologie!
Geduld und Optimismus
Zusammenfassend gilt: Geduld und Optimismus sind gleichermaßen angesagt! Die Automatisierungstechnik stellt sehr hohe Anforderungen und 5G ist eine sehr neue, aber deutlich ausbaufähige Technologie! Der Nutzen auch für die Automatisierungstechnik wird sich einstellen (Optimismus berechtigt), aber es wird länger dauern, als von vielen erwartet oder erhofft (Geduld angesagt).